Ludger Kremer
Schützenfest und Kirmes sind im Bewusstsein der Heidener fest miteinander verbunden. Zwar fühlen sich Kinder und Jugendliche stärker zur Kirmes hingezogen, während die Erwachsenen eher dem Schützenfest zugeneigt sind, doch möchte wohl kaum eine der Generationen den weniger favorisierten Festteil entbehren. Die heute so selbstverständlich erscheinende Verbindung von Schützenfest und Kirmes war jedoch nicht immer vorhanden. Die Einrichtung des ersten Jahrmarktes in Heiden, aus dem später die Kirmes wurde, erfolgte im Jahre 1613, wovon bekanntlich der Königsschild der Heidener Bürgerschützen stammt.
Über die Einrichtung des ersten Heidener Jahrmarktes am jeweils zweiten Augustmontag sind wir ausnehmend gut unterrichtet, da der diesbezügliche Briefwechsel zwischen dem Heidener Pfarrer Hermann Ebbeler (Pfarrer von 1598 bis 1625?) mit den fürstbischöflichen Räten in Münster vollständig überliefert ist. Ebbeler richtete am 12. September 1613 sein erstes Bittschreiben an die Räte, um die Genehmigung für einen Vieh- und Jahrmarkt zu erhalten. Das hat endlich den gewünschten Erfolg: Am 12. Oktober 1615 bewilligen die fürstlichen Räte den „gebetene Vieh- od. Jahrmarckt“, jährlich am Montag vor Mariä Himmelfahrt abzuhalten. Er dürfte erstmalig im Jahre 1616 stattgefunden haben.
Kirmesbuden am Maibökenplatz (30er Jahre)
Bei diesem Markttage handelte es sich also um einen ganz normalen Vieh- und Krammarkt – das Schützenfest wurde bis Mitte des 19. Jahrhunderts an ganz anderen Terminen gefeiert. Der „Münsterische Almanach auff das Jahr nach der Geburt Jesu Christ 1636“ führt den 10. August 1636 als Heidener Jahrmarktstermin an, und dieser Augusttermin bleibt der einzige bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Irgendwann zwischen den Jahren 1765 und 1781 kommt ein zweiter Termin hinzu, denn der Almanach für 1781 nennt den 20.6. (Mittwoch nach Fronleichnam) und den 10.8., und das gilt auch noch für den Almanach des Jahres 1814.
Genaueres über die Heidener Jahrmärkte erfahren wir dann im Jahre 1821, als Bürgermeister Steinmann in seiner Chronik von Heiden festhält:
„In der Gemeinde Heiden wurden hergebrachtermaßen jährlich drey Märkte gehalten – nämlich a) der erste am 1. Mittwoch nach Fronleichnam, b) der zweite am ersten Freitag oder acht Tage nach Fronleichnam, c) der dritte am ersten Mittwoch nach Laurentius (= Montag vor Mariä Himmelfahrt oder zweiter Montag im August).“
Dem Wunsch der Eingesessenen von Heiden zufolge wurde auf die Verlegung des Marktes unter a) auf den 1. März jeden Jahres angetragen, und diese Verlegung erhielt in diesem Jahre die Höhere Genehmigung.
Der von Steinmann unter b) aufgeführte Markttag, zwei Tage nach dem ersten Termin am Mittwoch nach Fronleichnam, scheint wohl ein inoffizieller Termin gewesen zu sein, denn in den Almanachen von 1781 und 1814 wird nur der Mittwochtermin aufgeführt. Seit dem Jahre 1821 gab es also drei offizielle Jahrmärkte in Heiden: am 1. März (oder am 2.3., wenn der 1. auf einen Sonntag fiel), am Freitag in der Woche nach Fronleichnam und am zweiten Augustmontag. Das blieb so bis zum Zweiten Weltkrieg.
„Dreißiger Jahren wohl nur noch auf dem Papier bestanden, denn die älteren Heidener erinnern sich nicht, je einen Vieh- oder Krammarkt erlebt zu haben. Der Nordicker Lehrer Osthoff schreibt denn auch bereits in seiner Chronik von 1917:
‚Im Dorf Heiden werden auch zwei Märkte abgehalten (im Jahre!), sie sind jedoch so wenig besucht, dass sie kaum wert sind, erwähnt zu werden.‘
Wie sehr das Interesse der Erwachsenen dem Schützenfest, das der Kinder dagegen der Kirmes gilt, ersehen wir auch daraus, dass es kaum Fotos vom Heidener Kirmesgelände gibt, so dass wir den Wandel im Erscheinungsbild der Kirmes leider kaum mit Bildmaterial dokumentieren können. Umso willkommener sind daher die nachstehenden Jugenderinnerungen von Herbert Filippek über die ‚Häidske Kärmis‘, der man als Kind den ganzen Sommer über entgegenfieberte.“
„Dree Wääke väör Kärmis“ – wenn ich mich heute zurück erinnere an die Jahre vor dem Kriege, 1936 – 1939, sehe ich mich als Zehnjährigen noch voller freudiger Erwartung der erlebnisreichsten Tage des Jahres.
Fernsehen kannte ich nicht mal dem Namen nach, Urlaubsreisen ins Ausland oder auch nur in die nähere Umgebung gab es nicht – wer war denn überhaupt schon mal über die Grenzen Heidens, ausgenommen vielleicht in die Nachbargemeinden, hinausgekommen? Da waren ein paar Kirmestage schon sehr bedeutsam, sie zeigten ein Stück der großen Welt. Kirmes wurde zum Zeitfaktor, man rechnete nach Tagen, gar Wochen vor oder nach diesem Heidener Volksfest.
Ich will versuchen, 50 Jahre nach einer solchen Kirmes die Eindrücke und Erlebnisse eines Zehnjährigen nachzuvollziehen. Wie die meisten meiner Altersgenossen – das Geld war ja nicht so reichlich vorhanden wie heute – versuchte ich, mir etwas „Kirmesgeld“ zu verdienen. Kleine Dienstleistungen für Eltern, Verwandte oder Nachbarn waren willkommen.
Während einiger Jahre sammelte ich mit meinem Bruder auf abgeernteten Roggenfeldern Ähren, diese wurden von Töne Hendricks mit seinem „Dampdoschker“ abgedroschen: er zeigte damit viel Verständnis für die Jugend. Ich erinnere mich, dass ich, ich glaube es war 1939, für 10 Mark Roggen an Kürtens Mühle verkaufen konnte. Leider durfte ich dieses Geld aber nicht alles auf der Kirmes ausgeben, meine Mutter kaufte bei Kipp-Kremer für uns Jungen neue Kniestrümpfe und ein neues „Blüüsken“, da musste ein großer Teil des Geldes beigesteuert werden. Aber was sollte es, einige Onkel und Tanten kamen ja Kirmes zu Besuch, da gab es auch immer noch mal einen Fünfziger (50 Pfennige!).
Ab mittwochs vor Kirmes hatten wir Jungen es besonders „drock“, kamen doch die ersten Kirmeswagen an. Es war höchst interessant, dem Aufbau der Kirmes zuzuschauen. Es konnte auch schon mal eine Freikarte abfallen, wenn man sich mal nützlich machen konnte. Bei der Familie Schlatjan (damals Bäckerei) hatte ich hierzu schon im Winter Gelegenheit gehabt. Die von Schlatjan gebackenen Lebkuchenherzen mussten in Staniolpapier eingepackt, mit einem Papierherzchen, auf dem ein passender Spruch stand, verklebt und ein Faden zum Aufhängen musste durchgezogen werden: Arbeiten, die auch schon Kinder machen konnten. Ich erinnere mich, dass in Schlatjans Keller ein sehr großer Teigklumpen lag, von dem dann Herzchen in verschiedenen Größen gebacken wurden. Die fertigen wurden in große, grüne Holzkisten gepackt und auf dem Dachboden unter dem Heu aufbewahrt, aus welchem Grunde, habe ich nicht erfahren. Ich denke, es geschah wegen der Haltbarkeit.
Neben diesen Lebkuchenherzen gab es in „Schlatjans Moppenbude“ noch Honigkuchen, Alpenbrot, Plätzchen, Pfeffernüsse. Die Attraktion dieser Bude war jedoch das gußeiserne Glücksrad. Für schon 5 Pfennige durfte man das Rad drehen, je nachdem, auf welcher Zahl es stehen blieb, konnte man mit einem Gewinn rechnen. Ich habe heute noch den Eindruck, dass es da manchmal nach Gutdünken ging. Ubrigens wurde dieses Glücksrad in Heiden zum geflügelten Wort; für schon den kleinsten Gefallen, den jemand dem nächsten tat, hieß es: „Daor laot’k di Kärmis eenmaol väör draihn!“ Ob diese Dankesversprechen immer eingelöst wurden, wage ich heute zu bezweifeln.
Ich möchte nun mal den Kirmesplatz schildern. Von der Größe und dem Standort ist er mit dem heutigen nicht zu vergleichen. Das ganze Geschehen spielte sich auf der Hauptstraße im Dorf ab. Das Karussell stand bei Wittenberg (heute Oenning) vor dem Haus, die Schiffschaukel bei Ebbings Pferdeställen längsseits, beide Unternehmen gehörten der Familie Reinoldi. Ich weiß nicht anders, als dass diese Familie jedes Jahr in Heiden aufbaute: der Sohn kümmerte sich um die Schiffschaukel, der alte Herr um das Karussell. Wir Jungen versuchten immer, während der Fahrt aufzuspringen. Herr Reinoldi unterband es mit einem Rohrstock, der manchmal ständig in Aktion sein musste. Der Herr Pastor ließ um die Mittagszeit alle Kinder umsonst fahren, das dauerte meist so 1 Stunde, da war der Andrang immer besonders groß. Vor Oennings Kreuz, heute die Straßenabzweigung nach Lembeck (noch zu sehen in „Das alte Heiden im Bild“, Nr. 144, Seite 61) stand ein übergroßes Kasperle-Theater, der Bühnenausschnitt war ca. 2,50 x 1,00 m. Für uns Kinder war das eine preiswerte Unterhaltung: wenn nämlich die Kassiererin mit der Zigarrenkiste kam, konnten wir uns schnell verdrücken oder den Standort wechseln.
Die Schießbude wurde jahrelang von der Familie Holtwick aus Ramsdorf aufgebaut. Kirmesblumen und Papiersonnenschirmchen waren die Ziele, auf die geschossen werden konnte. Kirmesblumen fanden in Heiden vielfach einen Ehrenplatz zu Hause im „Mutter-Gottes-Schränkchen“, welches in vielen Bauerndielen hing – ich nehme an, weil diese Blumen nicht welken konnten und weil es ja auch etwas Besonderes war, und das gehörte sicherlich zur Mutter Gottes oder dem Herzen Jesu. Frau Holtwick war übrigens in Heiden gut bekannt unter der Ehrenbezeichnung „Plodden-Liesken‘, weil sie während des Jahres auch Altwaren, Lumpen und dergleichen sammelte. Sie bezahlte dann mit Puddingtellern, Tassen, für Kinder Windrädchen oder „Rannepeters“. Außerdem war natürlich eine Spielwarenbude aufgebaut. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob diese auch der Familie Holtwick gehörte, anzunehmen ist es aber.
Neben Schlatjans „Moppenbude“ baute auch Familie Rotterdam aus Borken eine Gebäckwarenbude auf, diese Familie war auch in Heiden gut bekannt (freundlicherweise stellte uns Herr Heinz Rotterdam, Sohn des damaligen Inhabers, einige Aufnahmen zur Verfügung). Erinnern kann ich mich auch an einen Vorläufer der heutigen Spielautomaten: er stand bei Willing vor dem Hause, ein Lichtkasten, bei dem die vier Spielkartenasse abwechselnd aufblinkten. Hatte man seinen Groschen auf das As gesetzt, das zuletzt aufblinkte, so hatte man gewonnen. Die Eisbude hatte Harmeling aus Borken, sie war ebenfalls ein großer Anziehungspunkt und für uns ein Groschengrab. Jägers machte auch schon Eis, hier machte ich mich für ein Eis schon mal nützlich, indem ich die Maschine drehte. Es war ein Kupferkessel, der sich durch einen mit Roheis und Viehsalz gefüllten Holzkübel drehen und so die Milchfüllung gefrieren lieB. Das war reine Handarbeit und anstrengend, sicherlich gut für die Lunge. Eine Pommes- und Wurstbude habe ich nicht in Erinnerung; Pommes kamen ja erst in den fünfziger Jahren auf. Die Metzgerei Oenning hatte den Laden und das angrenzende Wohnzimmer in eine „Speisehalle“ umfunktioniert, hier gab es Bratwurst und Kottelets, sicherlich auch während des Jahres nicht auf jedem Speiseplan zu finden.
Der Kirmesplatz reichte also von Oenning bis zum Maibökenplatz, damals groß genug, uns allen das so lange herbeigesehnte Vergnügen zu bereiten. Im Nachhinein kann ich mich erinnern, dass ich in diesen Jahren mit 3 – 5 Mark auf der dreitägigen Kirmes sehr viel anstellen konnte. Das Schützenfest spielte bei uns Kindern eine untergeordnete Rolle, wir haben die Umzüge miterlebt, dabei die Uniformen und Federhüte der Offiziere und auch die Musik des Heidener Spielmannszuges und der Musikkapelle bewundert, am meisten Kaspar Meirick mit seiner Posaune: diese habe ich besonders imposant gefunden. Haften geblieben ist mir besonders gut, dass bei den Umzügen an einem Hause, in dem eine Leiche über Erden stand, die Musik verstummte. Kaspar Meirick wusste sicherlich von dem Verstorbenen in jenem Hause, die Familie hatte das aber auch durch das Anbringen eines schwarzen Trauerflores an der Türklinke deutlich gemacht. Nicht unerwähnt lassen möchte ich die Vorbereitungen der Hausfrauen für die Festtage. Es war üblich, dass jede Familie Besuch von auswärts wohnenden Angehörigen bekam. Selbstverständlich, dass es immer besonders gutes Essen gab. Beeindruckt hat mich immer, dass meine Mutter und auch meine Großmutter bei Langenhoff eine „Plaate Kooken“, halb Streuselkuchen, halb Apfel- oder Pflaumen,, taate „, backen ließen. Selbstgebackenes Brot gab es sowieso: zu Hause wurde es geknetet und anschließend bei Schlatjan, Langenhoff oder Jägers oder Thresen (Becker) abgebacken. Man nannte diese Brote „Lohnstuten“. Zu den Feiertagen, dazu gehörte zweifelsfrei die Kirmes, gab man auch schon mal eine Handvoll Rosinen in den Teig. So eine Kirmes vor runden 50 Jahren ist mit einer heutigen sicher nicht zu vergleichen. Sie hat mich aber so beeindruckt, dass ich sie in Erinnerung habe, als wäre sie letztes Jahr gewesen. Wenn ich mit meinen Enkeln heute einen Kirmesplatz besuche, sehe ich ganz ungewollt die Kirmes in der Dorfstraße vor mir. Gerade durch die drangvolle Enge war sie so gemütlich und voller Atmosphäre. Schade, dass es heute nicht mehr möglich ist, das Schützenfest und die Kirmes im Dorfzentrum zu feiern.